Geschichte
Michael Linton konnte sich auf weiter zurückliegende historische Ereignisse und Experimente
berufen, als er (Local Exchange Time System) "erfand". Das war Anfang der achtziger
Jahre, in Kanada, auf Vancouver Island. Hier gab es eine besonders hohe
Arbeitslosigkeit, weil wichtige Firmen und auch die Luftwaffe, die Region
verlassen hatten.
Da die Sozial- bzw. Arbeitslosenversicherungen in den USA und Kanada nicht
so feinmaschig funktionierten wie z.B. in Deutschland, entstand große
Not und man versuchte, sich mit Tauschen zu behelfen.
Dies erreichte aber in der Zweiseitigkeit schnell seine Grenzen.
Michael Lintons Verdienst ist es, das bestehende Tauschsystem mit zwei
wesentlichen Elementen erweitert zu haben: er führte eine Tauschzentrale ein, wo jeder sein eigenes Konto bekam, und eine Art Marktzeitung,
in der Angebote und Gesuche der Teilnehmer/ –innen veröffentlicht
wurden. Durch die zentrale Verrechnung wurde es möglich, daß nicht
nur zwei Personen direkt, sondern alle mit allen tauschen konnten.
Von Kanada aus verbreitete sich die Idee sehr schnell weltweit,
vor allem auch in den englischsprachigen Ländern. In England fand die Idee besonders großen Zulauf, während der Thatcher-Regierung,
in der große Arbeitslosigkeit herrschte. In Wales z.B. gibt es fast
in jedem zweiten Ort ein .
In Australien entwickelten sich bald die größten
Systeme mit bis zu 5000 Teilnehmer/–innen, und in Neuseeland kann man mit "Green Dollars" – so heißt die dortige
Tauschwährung – sogar Steuern bezahlen, die aus Tauschgeschäften
entstehen.
Der größte uns bekannte Tauschring existierte in Argentinien.
An ihm nahmen über 120 000 Leute teil. Er war auf der EXPO
2000 vertreten.
Auch in Deutschland schossen ab 1994 die
Tauschringe wie Pilze aus dem Boden, an die 300 Tauschsysteme gibt es,
– rechnet man Seniorengenossenschaften hinzu, sind es weit über
350.
In München stellte Lothar Mayer die Idee Ende 1993 zuerst einem Freundeskreis in Kirchheim bei München,
dann im April 1994 in der Seidl-Villa in München öffentlich vor. Er hatte in England kennen gelernt und gehofft, daß die Tauschidee auch in
München wie eine Bombe einschlägt.
Aber anfangs nahmen fast nur Akademiker/–innen teil, die zudem noch
über ganz München verstreut waren, so daß das Tauschen
nicht so richtig in die Gänge kam. Erst ab Mitte 1995, als die einzelnen
Stadtteiltreffen eingerichtet wurden und auch die Medien die Idee aufgriffen,
boomte München
– und wir waren mit über Tausend aktiven Teilnehmern/ –innen
das größte Tauschnetz Deutschlands. – Nach der Trennung
vom Tauschring im Jahr 2001 haben wir z.Zt. ca. 350 Aktive.
Warum ?
Unsere Gesellschaft befindet sich in einer Krise.
Der Wohlfahrtsstaat leistet nicht mehr das, was er kostet. Der Gesellschaft geht die Lohnarbeit, also die bezahlte Arbeit aus,
während die Gewinne der Multis ins Unermeßliche steigen.
Und im Zuge des Wachstumszwanges unserer Wirtschaft, bei gleichzeitigen
Rationalisierungszwängen, fallen immer mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt
heraus, sind "Stigmatisierte", die keine sinnstiftende Beschäftigung
mehr finden, häufig auch von den Arbeitsplatzbesitzenden geächtet
werden.
Bei gleichzeitigem Abbau des Sozialstaates bedeutet das
für immer mehr Menschen auch, nicht mehr teilhaben können am
Wohlstand der Gesellschaft, oft an der Grenze des Existenzminimums leben.
Dem gegenüber steht eine ungebremste Konsumgesellschaft, in der sich
einige unermeßlichen Reichtum leisten können. Hinterfragt man
die Misere nach ihren Ursachen, stößt unweigerlich man unweigerlich
auf die Kapitalverwertungslogik unseres Systems, unseres
neoliberalen und geldmachtabhängigen Marktes, auf dem nur diejenigen
auf ihre Kosten kommen, die über genügend Geld verfügen.
Keine Arbeit haben bedeutet also auch, kein Geld oder wenig
Geld zu haben, und damit Ausschluß aus der Gesellschaft. Begreift
man Geld jedoch als eine Übereinkunft in einer Gemeinschaft, etwas
als Tauschmittel zu verwenden, wird sehr schnell klar, daß z.B.
unsere Landeswährung nicht die einzige Form von Geld sein muß,
mit dessen Hilfe wir Wohlstand, Lebensqualität erreichen können.
Tauschsysteme haben deshalb eine eigene, zeitgebundene Zeitwährung
erfunden, die es ihren Mitgliedern möglich macht, an Güter und
Dienstleistungen heranzukommen, die sie in der Landeswährung nicht
bezahlten könnten.
Daß es immer weniger bezahlte Arbeit gibt, bedeutet
aber nicht, daß es keine Arbeit mehr gibt, ganz im Gegenteil. Die
gesellschaftlich notwendigen Arbeiten wie Kindererziehung, Krankenpflege,
Gesundheitsdienste, der ganze Bereich der reproduktiven Arbeit oder sogenannten
"Frauenarbeit" wird ohnehin in diesem geldvermittelten Gesellschaftssystem
nicht bezahlt, nicht bewertet, ist aber auch Arbeit.
Arbeit ist also nicht nur geldbezahlte,
ist vielmehr eine Möglichkeit, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten,
den eigenen Lebenszusammenhang zu gestalten. Tauschringe gehen davon aus,
daß jeder Mensch vielfältige Fähigkeiten besitzt, die
er für die eigene und gemeinsame Lebensqualität einsetzen kann.
Nicht Abhängigkeit von einem Arbeitgeber, sondern Selbstbestimmung
und Entfaltung des eigenen Könnens sind hier gefragt, und jede eingebrachte
Arbeit ist der eines anderen gleichwertig. Eine Stunde ist eine Stunde, ist eine Stunde...
Die ganze Misere unseres gesellschaftlichen Zusammenhaltes drückt
sich auch darin aus, daß immer mehr Menschen vereinsamen, insbesondere
dann, wenn sie aus einem Arbeitsverhältnis herausfallen, in Rente
gehen, sich von Partnern trennen, alleinerziehend sind, sich den Zugang
zu sozialen Netzwerken nicht mehr "erkaufen" können, sich
den Konsummechanismen nicht unterwerfen wollen.
Der Aufruf von staatstragenden wohlversorgten Personen öffentlicher
Reputation nach einer neuen Bürgergesellschaft hat da schon etwas
Zynisches. Tauschringe bieten hier eine Möglichkeit, in einer umgrenzten
"Nachbarschaft", mit Menschen meines Vertrauens reziproke (zum
wechselseitigen Nutzen) Austauschbeziehungen zu pflegen, in denen ich
Kraft meiner Fähigkeiten, meiner Ideen, meiner Teilnahme die Möglichkeit
habe, an einem gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
Damit erhalte ich auch die Sicherheit, im Netz jemanden zu finden, der
mir hilft, wenn ich etwas brauche sowie die Möglichkeit, anderen
mit meinen Talenten zu helfen – z.B. die Einsamkeit zu überwinden.
Der hemmungslose Verbrauch unserer Ressourcen, die gesamte
ökologische Krise hängt mit unserem Wirtschaftssystem und seinen
vermittelten Werten zusammen. Tauschringe tragen von ihrer Idee her dazu
bei, andere Konsummuster aufzubauen und das "Ganze der Güter"
zu sehen, Nachhaltigkeit zu fördern.
Wir wenden uns gegen jede weltanschauliche, religiöse oder
politische Vereinnahmung von außen und von innen, gegen Gängelei, autoritäre
Verhaltensweisen und Machtstrukturen, wollen keine Eingriffe in unsere
Persönlichkeitsrechte. Wir sind kein Verein, haben bisher keine Legitimationsstrukturen.
An Entscheidungsfindungen haben wir alle teil, soweit wir uns einbringen
wollen, müssen aus gemeinschaftlicher Verantwortung heraus alle gemeinsam
nach Strukturen suchen, in denen sich nicht wieder Macht einzelner entfalten
kann.
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